Es ist April in Celle und Umgebung, die Osterferien haben ihren Zenit überschritten und einige Lehrkräfte zeigen eine ungewöhnliche Neugierde ihre heimische technische Ausstattung betreffend. Während der eine Kisten mit alter Hardware durchwühlt und nach mehreren Kopfhörern und Headsets aus dem ausgehenden letzten Jahrtausend, die ihm zwischen den Fingern zu Staub zerbröselt sind, endlich triumphierend ein USB-Sing-Star-Mikro gen Himmel reckt, rubbelt der andere mit spitzen Fingern die seit Jahren aus Angst vor Ausspähung verklebte integrierte Webcam des Laptops frei. Andernorts bewundert sich ein Lehrer im Spiegel mit dem blinkenden Gamer-Headset des Nachwuchses auf dem Kopf.
Es ist 2020, es ist Corona und der IServ-Administrator des Hölty-Gymnasiums hat das Modul „Videokonferenzen“ freigeschaltet.
Wenn man schon keinen Unterricht abhalten kann in nächster Zeit, dann doch wenigstens in Videokonferenzen! Voller Tatendrang treffen Lehrerinnen und Lehrer sich in abendlichen Probekonferenzen, um die Funktionen des Moduls zu testen und individuelle Probleme zu lösen: Wie kann ich mich aus dem Breakout-Room bei Fragen an die Lehrkraft wenden? Kann man sich generell melden? Warum funktioniert es bei einigen, den Bildschirm mit den Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmern zu teilen, bei manchen gar nicht, bei anderen nur programmweise? Safari, Chrome oder Firefox? Schöner Nebeneffekt: Man sieht und spricht seine Kollegen und Kolleginnen endlich mal wieder und kann diese Funktion in der Folgezeit auch zum dienstlichen Plaudern oder bei Sitzungen in Kleingruppen untereinander nutzen.
Mit vielen Ideen, vorbereiteten Präsentationen und Spannung blicken wir LehrerInnen den ersten geplanten Videosessions mit den Schülerinnen und Schülern entgegen. Doch schon in den ersten Tagen läuft morgens der Kollegiums-Messenger heiß mit Fragen rund um Probleme in den Konferenzen: Ob die Kinder mit der Hard- oder Software kämpfen, im Echo-Test-Nirwana verschwinden, plötzlich die Mikros aus sind, man schwer zu verstehen ist oder das ganze System auf einmal zusammenbricht, weil entweder die IServ-Streaming-Auslastung bei unglaublichen 30% in die Knie geht oder aber der Elektriker vor Ort in Celle den Server aus Versehen lahmlegt – jeder hat sein Päckchen zu tragen. Manchmal sind die Videokonferenzen sowieso „nur“ Telefonkonferenzen mit gemeinsamem Blick auf eine hochgeladene Präsentation, um die Auslastung gering zu halten. Und immer schwebt die Frage mit im Raum, ob man, damit alles besser funktioniert, vielleicht auf andere Programme umschwenken sollte: Hat denn jemand eventuell mal Skype probiert oder Zoom oder gar Jitsi? Und vor allem: Darf man das? Was sagt der Datenschutz dazu? Gibt es da eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung? Hat der Kultusminister dazu etwas geschrieben und wenn ja, in welchem von den gefühlt 6943 Schreiben genau? Wie es um die Digitalisierung in Deutschland steht, wird hier wie unter einem Brennglas deutlich.
Die Konferenzen Unterricht zu nennen, wäre außerdem wirklich hochgegriffen. Das wird schnell klar. Normale Stunden wie im Klassenzimmer mit Einstieg, Erarbeitung und vertiefender Diskussion sind damit nicht genauso zu stemmen. Partnerarbeiten in den Breakout-Räumen funktionieren zwar, aber ersetzen in den meisten Fällen nicht die Partner- oder Gruppenarbeit vor Ort mit entsprechender Ergebnispräsentation. Selbst in den wenigen Fällen, in denen Webcams eingeschaltet sind, erkennt man trotzdem nicht die Mimik der Schülerinnen und Schüler. Man kann also auch nicht so gut wie in der Schule herauslesen, ob etwas wirklich verstanden ist. Und immer wieder fehlen Schülerinnen und Schüler, denn die Organisation zu Hause fällt wohl wegen geteilter technischer Ausstattung in den Familien trotz immer wiederkehrendem Termin nach Stundenplan doch geringfügig schwerer als in der Schule vor Ort. Oder der Wecker ist noch schwerer zu hören, wenn man anschließend nicht einmal den Schlafanzug ausziehen muss.
Mit etwas Umdenken kann man aber Inhalte vermitteln sowie Fragen klären, und die Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer sind froh, ihre Schülerinnen und Schüler zumindest in Kleingruppen auch einmal sprechen zu hören. Das artet bei manchen auch schon einmal in ein „Extreme-Videoconferencing“ aus, wenn Fachlehrerinnen und Fachlehrer mehrere Klassen gesplittet unterrichten! Generell kommen dabei ganz neue Perspektiven zu Tage. So erkennt man die Schülerinnen und Schüler nun nicht mehr nur an ihrer Stimme, sondern sogar an der Art, wie sie aus Versehen gegen den Tisch treten, atmen oder mit den Unterlagen rascheln. Lehrkräfte jüngerer Kinder sehen amüsiert dabei zu, wie sie (genau wie manchmal in der Schule) irgendwann vergessen, dass Unterricht ist, und dabei anfangen zu malen oder sich auf ihren Schreibtischstühlen zu drehen. Man hört Mama nebenan im Home-Office telefonieren oder, weil plötzlich das Mikro doch an ist, den Streit mit der Schwester, man sieht Papa hereinkommen und ein Getränk bringen, hört die Spielzeugente des kleinen Bruders im Nebenzimmer quaken oder muss – ähnlich wie im Unterricht – feststellen: „Sag mal, isst du gerade?!“ Auf der anderen Seite springt auch schon mal die Familie der Lehrkräfte ins Bild – private Einblicke, die man so auf beiden Seiten meistens noch nicht bekommen hat.
Für die nächste Phase mit geteilten Klassen in Präsenzunterricht und Home Schooling sowie denjenigen, die wegen der Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe zu Hause bleiben, wird in den Oberstübchen der Technik-Asse schon fleißig getüftelt und zum Teil im ungewöhnlich leeren Lehrerzimmer laut sinniert: „Angenommen man könnte sich wie in einem Telefonat in den Audio-Chat einer Videokonferenz im Unterricht vor Ort einwählen, dann wäre es doch theoretisch möglich, dass … “
Wie es weitergeht, werden wir alle bald erfahren. Und auch wenn das Modul „Videokonferenzen“ einige Umstände mit sich bringt, war und ist es doch eine Möglichkeit mehr, während der Corona-Maßnahmen Unterricht abzuhalten und sich irgendwie wieder ein Stück näherzukommen.
Carmen Hurrelmeyer in Zusammenarbeit mit ideengebenden KollegInnen