„Wir waren wie Ratten. Es war egal ob wir leben oder nicht.“ Sie war 11 Jahre alt, als sie November 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ankam. Die heute 84-jährige Yvonne Koch hat unserem Geschichtskurs des 11. Jahrgangs ihre Geschichte erzählt und uns in absoluter Betroffenheit und Fassungslosigkeit gelassen. Frau Koch schilderte uns all ihre grausamen Erlebnisse im Konzentrationslager und sprach darüber, wie sie mit diesem „schweren Rucksack voller Erinnerungen“ ihr Leben nach der Befreiung 1945 bis heute führt.
Yvonne Kochs Eltern hatten jüdische Wurzeln, waren aber beide, ebenso wie ihre Tochter, katholisch getauft. Religion spielte im Leben der Familie keine Rolle. Bis ihr Vater 1944 von der SS gesucht wurde, da er als Arzt Auschwitz-Flüchtlingen geholfen hatte, lebte Yvonne Koch in einem Klosterinternat. Als SS-Funktionäre den geflohenen Vater nicht finden konnten, befragten sie Frau Koch nach seinem Verbleib. Sie konnte die Fragen nicht beantworten und wurde daher in einem Viehwagon ohne ihre Eltern tagelang aus der Slowakei nach Bergen-Belsen transportiert. Dort wurde sie mit anderen Frauen im Hunger- und Sterbelager untergebracht.
Mit den Worten „Wir waren wie Ratten. Es war egal ob wir leben oder nicht.“ beschreibt Frau Koch heute das Leben im KZ: Kälte, mangelnde Hygiene, Krankheiten, Hunger und Tod bestimmten dort das tägliche Leben.
Als auf sich alleingestelltes Kind konnte sie sich unter den Erwachsenen nicht durchsetzen – ihr wurde immer wieder Essen von der ohnehin knappen Lebensmittelration geklaut und sie wurde von niemandem unterstützt. Dies sind einige der Dinge, die wir heute nicht mehr nachvollziehen können. Die Vorstellung, dass ein hilfloses Kind so kaltherzig und rücksichtslos behandelt wurde, ist furchtbar. In der Zeit im KZ strickte eine Frau Yvonne Koch Kinderhandschuhe, welche sie immer bei sich trug – es war das erste und einzige Mal, dass ihr dort jemand Nächstenliebe zeigte. Diese Handschuhe sind jetzt ein Ausstellungsstück im Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Frau Koch erzählte auch von Zufällen, die ihr letztendlich das Leben retteten: Der Zug aus der Slowakei sollte eigentlich nach Auschwitz fahren und während des täglichen Morgenappells, bei dem Bewegungen untersagt waren, hat der Hund einer Wärterin sich geweigert, das Mädchen zu fassen, obwohl sie sich bewegt hatte. Auch der übliche Schießbefehl blieb aus. Frau Koch hatte in der Zeit nie ihre Hoffnung aufgegeben und meint, dass ihr Glauben an Gott ihr dabei half.
Die Befreiung der Briten am 15. April 1945 hat sie nicht bewusst miterleben können – sie war durch eine Krankheit kurz vor der Befreiung ins Koma gefallen und wachte erst später in einem britischen Lazarett wieder auf. Das von Frau Koch beschriebene Wiedersehen mit ihren Eltern ist für uns unvorstellbar. Es ist zu erwarten, dass man voller verschiedener Gefühle ist. Sie jedoch zeigte keinerlei Emotionen und bat ihre Mutter lediglich um Brot. Sie hatte einen Trieb zum Überleben ausgearbeitet, sie hat all ihre Gefühle ausgeblendet und verspürte nichts mehr.
Frau Koch hat bis zu ihrem 70. Lebensjahr kein Wort über ihre Erfahrungen verloren. Sie hat nie mit ihren Eltern über die Zeit im KZ geredet. Ihr ganzes Leben lang wollte sie nie ein Opfer sein, sie wollte auch kein Mitleid bekommen und hat aktiv dagegen angekämpft. In ihrer Jugend nach der Zeit im KZ habe sie sich immer anders als die anderen gefühlt, obwohl sie sein wollte wie die Gleichaltrigen. Sie hatte ein geringes Selbstwertgefühl, fühlte sich wie eine Außenseiterin und hing in der Schule nach. Selbstbewusstsein fand sie schließlich im Schwimmsport und ihren damit verbundenen Erfolgen. Sie hat eine Familie gegründet, studiert, sie hat in Amerika an einem AIDS-Projekt gearbeitet und hat, wie sie sagte, ein glückliches Leben, auch wenn die Erinnerungen sie oft einholten. Sie lernte, mit ihren Erfahrungen zu leben. Heute spricht sie offen über ihre Erlebnisse und ihr privates Leben, auch wenn es ihr schwer fällt sich aufs Neue daran zu erinnern. In unseren Augen ist Frau Koch eine starke Persönlichkeit und verdient großen Respekt, denn niemand erwartet, dass sie ihr Leben so preisgibt. Ihr Ziel damit ist unserer Generation klar zu machen, dass solche historischen Ereignisse sich nicht wieder ereignen dürfen – politische Bildung ist dafür die Basis. Es liegt in unseren Händen, welche Zukunft uns bevorstehen wird.
Wir bedanken uns bei Frau Yvonne Koch für die Offenheit und dafür, dass wir diese persönlichen Erfahrungen so detailliert hören durften!
Ines Antonovitsch